Die neue Grundsicherung bedeutet sozialen Abstieg per Gesetz – von Jörg Wimalasena

Shownotes

Die Bürgergeld-Reform der Bundesregierung nützt Chefs, deren Beschäftigte die Arbeitslosigkeit noch mehr fürchten müssen, Vermietern, die zahlungsschwache Mieter leichter loswerden können – und der AfD, die aus sozialem Abstieg politisches Kapital schlägt.

Artikel vom 10. Oktober 2025: https://jacobin.de/artikel/grundsicherung-buergergeld-hartz-iv-koalitionsausschuss-baerbel-bas-friedrich-merz

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00:00:00: Die neue Grundsicherung bedeutet sozialen Abstieg per Gesetz.

00:00:05: Die Bürgergeldreform der Bundesregierung nützt Chefs, deren Beschäftigte die Arbeitslosigkeit noch mehr fürchten müssen, vermietern, die Zahlungsschwache Mieter leichter loswerden können und der AfD, die aus sozialem Abstieg politisches Kapital schlägt.

00:00:27: Schon vor zwanzig Jahren, als SPD und Grüne mit der Einführung von Harz IV die soziale Absicherung für Arbeitslose zerstörten, hatten zuvor jahrelang Politiker in Talkshows gegen vermeintlich faule Jobverweigerer gewettert.

00:00:40: Und auch aktuell bereiteten die zahllosen Bürgergelddiskussionsrunden, in denen vor allem Unionspolitiker ständig und teils mit falschen Fakten im Fernsehen gegen das Bürgergeld wetterten, die nun beschlossenen unsozialen Verschärfungen vor.

00:00:55: Die schwarz-rote Koalition hat sich zum Auftakt ihres angekündigten Herbstes der Reformen auf Eckpunkte einer neuen Grundsicherung geeinigt.

00:01:03: Die geplanten Änderungen werden zu Armut, Obdachlosigkeit und Verdrängung führen.

00:01:08: Sozialer Abstieg per Gesetz.

00:01:11: Besonders dramatisch ist die erneute Verschärfung der Sanktionen bei Verstößen gegen die Mitwirkungspflicht, etwa wenn Leistungsempfänger unentschuldigt Termine beim Jobcenter verpassen.

00:01:21: Wer mehr als einen Termin versäumt, Dem sollen künftig dreißig Prozent des Regelsatzes gekürzt werden, beim dritten Verstoß werden alle Geldleistungen eingestellt.

00:01:31: Wer anschließend immer noch nicht beim Jobcenter erscheint, dem werden zusätzlich Miet- und Heizkosten gestrichen.

00:01:37: Bisher galt, bei mehrfachen Terminverstößen durften, stufenweise ansteigend, maximal dreißig Prozent des Regelsatzes gekürzt werden.

00:01:46: Das sieht ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von zwei tausend neunzehn vor.

00:01:50: Heiz- und Mietkosten waren bei Sanktionen ausgenommen.

00:01:53: Damit ist es nun vorbei.

00:01:55: Künftig sind die Gängelungsmöglichkeiten der Behörden so weitreichend wie seit Jahren nicht mehr.

00:02:00: Es sei denn, die Richter in Karlsruhe erklären die Änderungen für verfassungswidrig, was wünschenswert wäre.

00:02:06: Denn der aktuelle Regelsatz von fivehundertsechzig Euro liegt bereits am Existenzminimum und wird seit Jahren klein gerechnet.

00:02:14: Der paritätische Wohlfahrtsverband schrieb im April, die Regelleistungen decken weiterhin nicht die zentralen Bedarfe.

00:02:21: Um Armut zu vermeiden, müssten die Leistungen der Grundsicherung auf über achthundert Euro angehoben werden.

00:02:27: Eine Kürzung um dreißig Prozent garantiert also soziales Elend.

00:02:32: Chefs und Vermietern ausgesetzt.

00:02:36: Noch verheerender wird sich die Ausweitung der Sanktionen auf die Miete auswirken.

00:02:40: Sollten die Jobcenter die Überweisungen an den Vermieter einstellen, droht Betroffenen im schlimmsten Fall Obdachlosigkeit.

00:02:48: Und das mitten in einer sozialen Krise, die sich schon jetzt ausweitet.

00:02:52: Allein in Berlin hat sich die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen drei Jahren verdoppelt.

00:02:57: Der Senat rechnet bis Ende zwetausendneunundzwanzig mit einem Anstieg der wohnungslosen Zahl um knapp sechzig Prozent, auf dann mehr als fünfundachtzigtausend sechshundert Personen.

00:03:08: Ist es wirklich im gesellschaftlichen Interesse, diese erschreckende Zahl noch zu steigern?

00:03:13: Günstiger wird der Sozialstaat dadurch sicher nicht.

00:03:17: Profitieren würden vermutlich nur einige Vermieter und Immobilieninvestoren, die mit Hilfe der neuen Sanktionen womöglich einfacher Zahlungsschwache Mieter aus Wohnungen in begehrten Lagen herauskündigen könnten.

00:03:28: Für derart drastische Sanktionsmaßnahmen gibt es keine sachliche Rechtfertigung.

00:03:32: Nur eine kleine, fünfstellige Zahl, sogenannte Totalverweigerer, nimmt keine Jobs an.

00:03:38: Viele Bürgergeldempfänger, die Termine verpassen, leiden dagegen unter erheblichen gesundheitlichen und psychischen Problemen.

00:03:46: Drangsalierung und der Entzug ihrer Lebensgrundlage verschärfen ihre Lage eher noch.

00:03:51: Sie bräuchten intensive Betreuung und neue Perspektiven.

00:03:54: Im öffentlichen Diskurs spielt das allerdings kaum eine Rolle.

00:03:58: Eine der wenigen sinnvollen Änderungen beim Übergang von Hartz IV zum Bürgergeld der damaligen Ampelregierung betraf die Abschaffung des Vermittlungsvorrags.

00:04:07: Dabei sollten Qualifikationen und langfristige Vermittlungen gegenüber der Vermittlung in den nächsten besten Job im Vordergrund stehen.

00:04:13: Doch auch diese kleine Verbesserung hat Schwarz-Rot nun kassiert.

00:04:17: Laut Bundesarbeitsministerin Bärbel Baas gilt künftig wieder der Vermittlungsvorrang.

00:04:22: Damit erhärtet die Bundesregierung den Eindruck, dass die nachhaltige Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit keineswegs im Mittelpunkt ihrer Bemühungen steht.

00:04:32: Naheliegender ist die Vermutung, dass die neue Grundsicherung vor allem dem Zweck dient, die Mittelschicht zu verunsichern.

00:04:39: Wer Angst haben muss, beim Jobverlust nach einer kurzen Schonphase im Arbeitslosengeld eins in den Niedriglohnsektor hineinsanktioniert zu werden, überlegt sich vielleicht zweimal, ob er nach einer Gehaltserhöhung fragt oder dem Chef widerspricht.

00:04:52: Zu dieser Interpretation passt auch die Abschaffung der sogenannten Karenzzeiten auf das Schonvermögen, also das Vermögen, das nicht auf die Grundsicherung angerechnet wird.

00:05:02: Wer zu viel Erspartes hat, erhält keine Leistungen.

00:05:06: Zwar will man die Höhe des Schonvermögens an die Lebensleistung koppeln, aber dass diese Beträge großzügig genug sind, das betroffene Grundsicherung erhalten, ohne einen substanziellen Teil ihres Ersparten aufbrauchen zu müssen, ist eher unwahrscheinlich.

00:05:21: Aktuell beträgt das Schonvermögen selbst während der bisher geltenden Karenzzeit von zwölf Monaten nur vierzigtausend Euro für die erste leistungsberechtigte Person im Haushalt und fünfzehntausend Euro für jede weitere.

00:05:34: Gleichzeitig kündigen die großen deutschen Industrieunternehmen derzeit Tausende Mitarbeiter.

00:05:39: Und angesichts der schwächelnden Konjunktur sowie des notwendigen Strukturwandels der deutschen Wirtschaft ist es nicht unwahrscheinlich, dass viele entlassene Arbeitnehmer keinen neuen Job finden, bevor ihr Anspruch für unter fünfzigjährige maximal zwölf Monate auf arbeitslosen Geld eins erlischt und sie ins Harz vier System rutschen oder nicht einmal anspruchsberechtigt sind, weil sie zu viel Erspartes haben.

00:06:03: Vom Elend profitiert die AfD.

00:06:06: Eine solche Entwicklung birgt erhebliches Konfliktpotenzial.

00:06:10: Die Frustration über die Preissteigerungen der vergangenen Jahre ist hoch.

00:06:14: Wenn nun noch zahlreichen Arbeitnehmern innerhalb kürzester Zeit der soziale Abstieg droht, wird das den Rechtspopulisten weiteren Auftrieb geben.

00:06:22: Vor allem auch, weil Harz IV Bürgergeld Grundsicherung das letzte soziale Haltenetz für fast alle in Deutschland lebenden Menschen ist.

00:06:30: Aufgrund des Zuzugs hunderttausender Flüchtlinge sind bereits fast die Hälfte der Leistungsbezieher Ausländer.

00:06:36: Wie wird sich ein älterer deutscher Arbeitnehmer fühlen, der nach Jahrzehnten seinen Job verliert und dann auf dem Sozialhilfenniveau von Zuwanderern landet oder gar nicht einmal diese staatliche Hilfe erhält, weil er nach Ansicht des Gesetzgebers ein zu hohes Vermögen angespart hat?

00:06:52: In der ohnehin aufgeheizten Migrationsdebatte wäre ein solches Szenario ein Wahlgeschenk an die AfD, jene Partei, die Bundeskanzler Friedrich Merz einst halbieren wollte und die laut aktuellen Umfragen mittlerweile stärkste politische Kraft in Deutschland ist.

00:07:07: Ein erheblicher Teil des Stimmenzuwachses der AfD bei der vergangenen Bundestagswahl lässt sich auf die verschärfte soziale Lage in Deutschland zurückführen.

00:07:16: Mit der neuen sozial ungerechten Grundsicherung wird der Weg in den Abstieg nun noch kürzer.

00:07:21: Die Rechtspopulisten werden sich freuen.

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