»All Eyes on Gaza« kann nur der Anfang sein – von Loren Balhorn und Deborah Feldman
Shownotes
Die Kundgebung am 27. September in Berlin könnte die größte pro-palästinensische Demonstration werden, die es in Deutschland je gegeben hat. Wer den politischen Wind drehen und den Genozid in Gaza noch stoppen will, muss am Samstag auf die Straße gehen.
Artikel vom 24. September 2025: https://jacobin.de/artikel/all-eyes-on-gaza-genozid-demo-berlin
Seit 2011 veröffentlicht JACOBIN täglich Kommentare und Analysen zu Politik und Gesellschaft, seit 2020 auch in deutscher Sprache. Die besten Beiträge gibt es als Audioformat zum Nachhören. Nur dank der Unterstützung von Magazin-Abonnentinnen und Abonnenten können wir unsere Arbeit machen, mehr Menschen erreichen und kostenlose Audio-Inhalte wie diesen produzieren. Und wenn Du schon ein Abo hast und mehr tun möchtest, kannst Du gerne auch etwas regelmäßig an uns spenden via www.jacobin.de/podcast.
Zu unseren anderen Kanälen: Instagram: www.instagram.com/jacobinmagde X: www.twitter.com/jacobinmagde YouTube: www.youtube.com/c/JacobinMagazin Webseite: www.jacobin.de
Transkript anzeigen
00:00:00: All Eyes on Gaza kann nur der Anfang sein.
00:00:04: Die Kundgebung am siebenundzwanzigsten September in Berlin könnte die größte pro-palästinensische Demonstration werden, die es in Deutschland je gegeben hat.
00:00:13: Wer den politischen Wind drehen und den Genozid in Gaza noch stoppen will, muss am Samstag auf die Straße gehen.
00:00:20: Von Loren Ballhorn und Deborah Feldman.
00:00:24: Die letzten zwei Jahre waren geprägt von unaufhörlichem Horror in Israel-Palästina.
00:00:29: Der Angriff der Hamas auf den Süden Israels, der über ein tausend Soldaten und Zivilisten das Leben kostete, war ein Kriegsverbrechen, wurde jedoch mit einer Maßlosigkeit beantwortet, die in keinem Verhältnis zum Anlass steht und von der viele von uns naiv geglaubt hatten, dass sie im demokratischen Westen nicht mehr möglich sei.
00:00:48: Seit diesem Tag haben die israelischen Streitkräfte mindestens siebzigtausend Menschen getötet, die meisten davon Zivilisten und viele davon Kinder.
00:00:56: Viele Schätzungen gehen jedoch von einer noch deutlich höheren Zahl aus.
00:01:01: Das wahre Ausmaß des Grauens wird erst bekannt werden, wenn der Vernichtungskrieg beendet und die Trümmer beseitigt sind.
00:01:08: Es ist schwer, in Worte zu fassen, was für eine überwältigende Anklage gegen die Liberale regelbasierte Ordnung der Krieg in Gaza darstellt.
00:01:16: Es stimmt zwar, wie Israels Apologeten immer wieder betonen, dass auch in anderen grausamen Konflikten zahlreiche Unschuldige getötet werden, wovon die Kriege in der Ukraine und im Sudan die prominentesten Beispiele sind.
00:01:29: Natürlich versteht es sich von selbst, dass die Sorge der Israel-Versteher um die Menschen im Sudan nur als rhetorischer Ablenkschild dient, aber noch wichtiger ist, dass dieser Whataboutism einen sehr grundlegenden Punkt verschleiert.
00:01:43: Der Völkermord in Gaza, anders als die Kriege in der Ukraine oder in Nordafrika, wäre unmöglich ohne die Zustimmung und sogar Unterstützung des Westens, Ergo unseren Regierungen.
00:01:54: An wohl keinem anderen Ort ist diese westliche Komplizenschaft so deutlich zu spüren wie in Deutschland, dem Land, das für die fast vollständige Vernichtung der europäischen Juden verantwortlich war und daraufhin nie wieder zu seinem zivilisatorischen Credo erklärt hat.
00:02:08: Jahrzehntelang bedeutete dieses Bekenntnis, militärische Ausrüstung und politischen Rückendeckung an eine neokoloniale Besatzung zu liefern, die selbst das eigene auswertige Amt wiederholt als illegal bezeichnet hat.
00:02:21: Doch was seit dem siebten Oktober-Zweißen-Dreiundzwanzig geschieht, markiert eine Zäsur.
00:02:26: Eine Außenministerin verteidigt das Bombardieren von Krankenhäusern und Schulen.
00:02:31: Ein Bundeskanzler beschreibt einen illegalen, unprovozierten Luftkrieg als notwendige Drecksarbeit.
00:02:37: Politiker und Journalisten stellen immer wieder in Frage, ob die grausamen Bilder von Massenmord in Gaza nicht vielleicht doch gestellt sind.
00:02:44: Demonstrierende werden auf Berliner Straßen von der Polizei brutal zusammengeschlagen und die liberalen Stimmen, die sonst ihre Bereitschaft für die freie Meinungsäußerung zu sterben laut Kund tun, bleiben auf einmal still.
00:02:57: Eine unfassbare Entmenschlichung macht sich breit und diejenigen, die diese kritisieren, darunter nicht wenige Menschen jüdischer Abstammung, werden als Antisemiten diffamiert.
00:03:07: Es fühlt sich nicht selten so an, als würde Deutschland eine Parallelrealität bewohnen.
00:03:13: Ein Kipppunkt wird erreicht.
00:03:16: Deswegen ist die Demonstration All-Ice on Gaza am siebenundzwanzigsten September in Berlin so verdammt wichtig.
00:03:23: Da das massenhafte Abschlachten der Palästinenser unvermindert weitergeht und Israel keine Anzeichen eines Nachlassens zeigt, beginnt sogar hierzulande die Stimmung zu kippen.
00:03:34: Nach fast zwei Jahren des Zögerns und Zauderns bewegt sich langsam die deutsche Zivilgesellschaft.
00:03:40: Die Atmosphäre in der Bundesrepublik über die letzten zwei Jahre ist für viele von uns eingebürgerten Deutschen, Juden wie Nicht-Juden, Araber wie Amerikaner, zutiefst befremdlich.
00:03:51: Wir mussten mit Ansehen wie nicht nur die Medien und das politische Establishment, sondern sogar liebe Freunde und angesehene Kollegen angesichts der völkerrechtswidrigen Handlungen Israels bestenfalls in beschämen des Schweigenverfielen oder sie im schlimmsten Fall aktiv verteidigten.
00:04:07: Für diejenigen von uns, die in der internationalen Linken sozialisiert wurden, wo Solidarität mit Palästina ein Kernprinzip ist, waren die Eigentümlichkeiten der deutschen Debatte schon immer schwer zu verstehen.
00:04:18: Aber das Versagen eines Großteils der deutschen Linken, ihrer millionenstarken Gewerkschaften und ihrer alternativen Medien, angemessen auf die Zerstörung des Gasastreifens zu reagieren, hat uns trotzdem überrascht.
00:04:31: Es hat eine Feigheit und ein Gruppendenken im Herzen der deutschen Gesellschaft und ihres progressiven Lagers offenbart, denen viele von uns, die dieses Land zu ihrer Heimat gemacht haben, noch nicht begegnet waren.
00:04:43: Und es erfüllt uns mit großem Unbehagen.
00:04:46: Angesichts der moralischen Verfehlungen der letzten zwei Jahre empfinden einige in der Palästina Solidaritätsbewegung und der palästinensischen Community das, was jetzt geschieht, als zu wenig und zu spät.
00:04:58: Warum sollte man Akteuren politischen Rückhalt geben, die unsere Botschaft in den letzten zwei Jahren immer wieder zu marginalisieren versucht und die Bewegung fälschlich und wiederholt mit der Hamas in Verbindung gebracht haben?
00:05:11: Diese Frustration ist verständlich gar gerechtfertigt, aber politisch ist sie kontraproduktiv und trägt nichts dazu bei, die deutsche Unterstützung für Israels Verbrechen zu beenden.
00:05:22: Unabhängig von früheren Differenzen hat jeder, dem ein Ende des Genozids in Gaza am Herzen liegt, die moralische und politische Verantwortung am Samstag auf die Straße zu gehen und dazu beizutragen, dass der politische Wind in diesem Land sich dreht.
00:05:36: Schließlich geht es nicht um unsere Gefühle.
00:05:38: Es geht um die Menschen im Gasastreifen, die gerade mit Hilfe deutscher Waffen ausradiert werden und denen nicht mehr viel Zeit bleibt.
00:05:46: Eine Mobilisierung mit Potenzial.
00:05:50: Angesichts der langen Zeit, die es gedauert hat, bis sich ein Konsens für die Demonstration herausbilden konnte und nachdem der erste Versuch einer solchen Mobilisierung vor wenigen Monaten gescheitert war, befürchteten viele, dass sie es nicht schaffen würde, den Aggressor in dieser Situation klar zu benennen, sondern stattdessen in Mahnungen an beide Seiten und wohlfeile Rufe nach Frieden verfallen würde, die den Diskurs in Deutschland nach wie vor bestimmen.
00:06:14: Doch das ist nicht der Fall.
00:06:16: Die Forderungen des Bündnisses, das für den siebenundzwanzigsten September mobilisiert, sind erfrischend klar und im deutschen Kontext beinahe revolutionär.
00:06:24: Ein Ende aller militärischen Zusammenarbeit mit Israel, ein Ende der Besetzung Palästinas und sogar eine Erwähnung der Tausenden von palästinensischen Geiseln, die Israel ohne Anklage in seinen Gefängnissen festhält.
00:06:38: Anstatt die Zerstörung GASAS als bedauerliche, aber gerechtfertigte Überreaktion auf die Angriffe vom siebten Oktober darzustellen, erkennt zum ersten Mal ein breiter Teil der deutschen Zivilgesellschaft die Palästinenser als Opfer an und stellt ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt.
00:06:54: Dazu wird die wachsende Repression gegen die palästinersolidarische Bewegung klar benannt und aufs Schärfste verurteilt.
00:07:01: Etwas, was nicht mal alle linken Politiker in diesem Land bisher über die Lippen bekommen.
00:07:06: Viele sagen bereits voraus, dass die Demonstration am Samstag die größte pro-palästinensische Kundgebung sein wird, die es je in Deutschland gegeben hat.
00:07:14: Doch der siebenundzwanzigste September ist nicht vom Himmel gefallen, sondern eine Reaktion auf Druck von unten seitens der großen NGOs und der Partei Die Linke, deren Anhänger seit Monaten eine klare Haltung in dieser Frage fordern.
00:07:28: Die Demonstration zeigt, dass auch in Deutschland die Debatte um den Nahost-Konflikt, in Wirklichkeit, Besatzung und Vertreibung nicht statisch ist.
00:07:37: Wir können es uns deshalb nicht leisten, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen.
00:07:41: All Ice on Gaza kann nicht das Ende, sondern muss der Beginn einer noch breiteren Mobilisierung sein, die über die Hauptstadt hinaus in das ganze Land reicht und Druck auf alle Parteien, insbesondere aber auf die Koalitionsparteien ausübt, um Deutschlands bedingungslose Unterstützung für die Kriegsverbrechen Israels zu beenden.
00:08:00: Die politischen Bedingungen dafür sind günstiger als je zuvor.
00:08:04: Wir müssen den Druck weiter erhöhen, auf Kirchen, Gewerkschaften und alle anderen Institutionen, die in unseren europäischen Nachbarländern bereits fester Teil der Bewegung sind, und dafür sorgen, dass die mehrheitliche Ablehnung der deutschen Komplizenschaft, die sich in Meinungsumfragen immer wieder bestätigt, auch im Parlament Ausdruck findet.
00:08:23: Es ist nicht zu spät, den Völkermord zu stoppen und die endgültige ethnische Säuberung des Gasastreifens zu verhindern.
00:08:30: Es ist aber auch nicht zu spät, dem vorauseilenden Gehorsam, der in Deutschland zu oft als tugend gepflegt wird, Einhalt zu gebieten und für eine undere Kultur der Aufrichtigkeit und Zivilcourage zu streiten.
00:08:42: Gehen wir diesen Samstag in Berlin auf die Straße.
00:08:45: Es ist wahrscheinlich unsere letzte Chance, mit dem langen Schweigen zu brechen.
Neuer Kommentar